Dienstag, 16. Juni 2009

Brief an meine Tochter

Liebe Leonora,

leider gibt es Dich noch gar nicht, aber wenn es Dich schon geben würde, würdest Du vielleicht so heißen, nach einer Figur aus den Gedichten von Edgar Allan Poe.
Ich möchte Dir aber doch schon heute einen Brief schreiben, um Dir zu erzählen, was ich über Frauen weiß und was vielleicht auf Dich zukommt, weil Du eine Frau werden wirst.
Ich kann Dir leider nicht versprechen, daß man Dich gleich gut behandeln wird, wie einen Mann, es könnte sein, daß Du weniger verdienen wirst für die gleiche Arbeit, daß Dir Chancen nicht gegeben werden, nur, weil Du eine Frau bist. Es ist traurig, aber es ist wahr. Das Gesetz gewährt uns zwar allen gleiche Rechte und Chancen und mißt allen Menschen den gleichen Wert zu, aber wie so oft sind Gesetze ideal und Menschen, die sie nicht achten, unideal aber real. Es muß ja wohl an der Unterschieden zwischen Männern und Frauen liegen, daß die einen benachteiligt werden, oder? Ich habe oft über diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern nachgedacht und nicht nur ich allein, denn aus diesen, offenbar auf die unterschiedlichsten Weisen wahrgenommenen Unterschieden lassen sich immer noch Kabarettprogramme, Ratgeberbücher, dumme Sprüche und Klischees, Manifeste und mehr oder weniger gute Romane und Filme machen und alle diese finden auch immer noch ihr Publikum. Heißt das nun, daß diese Unterschiede wirklich so groß oder bedeutend sind, oder daß nur mittlerweile die meisten glauben, es wäre so und in der karikaturhaften Darstellung und komödiantischen Verwurstung derselben eine Bestätigung und Anregung sehen, diese Unterschiede geradezu zu suchen, mit ihnen zu kokettieren und sie vielleicht sogar stärker an sich selber zu betonen, als sie es sonst tun würden? Ich weiß es nicht, bin aber gespannt, zu erfahren, wie Du das eines Tages sehen wirst. Was ich weiß, ist, daß Frauen und Männer nicht gleich sind und ich finde, man sollte sie nicht gleich zu machen versuchen. Biologisch Sie sind nämlich und natürlich verschieden und gerade ihre Verschiedenheit ist oft Grundlage dafür, daß sie sich anziehen. Selbstverständlich sind Männer und Frauen aber gleich viel wert, waren es immer und hätten einander immer so behandeln sollen. Leider wurden Frauen die längste Zeit und werden auch heute noch an vielen Orten schlecht behandelt, unterdrückt, klein, dumm und fern von Bildung gehalten, als minderwertig, unzulänglich, unwichtig und unberechtigt angesehen und sogar verstümmelt - und zwar von Männern. Noch schlimmer und zynischer aber ist, daß das dazu geführt hat, daß viele Frauen diese Haltung zu ihrem eigenen Geschlecht übernommen haben, weil sie nie eine Alternative kennengelernt und vom kritischen Denken mutwillig abgehalten wurden und manche Frauen denken heute noch so. Das ist eine große Schande, eine schlimme, entwürdigende Entstellung im Antlitz der Menschheit und ich finde es unerträglich! Es besorgt mich ein wenig, daß ich Dich eines Tages in diese Welt werde ziehen lassen müssen; ich kann Dir nur versprechen, daß ich alles tun werde, um zu verhindern, daß Dir so etwas passiert. Ich werde Dich lehren, Dir niemals wegen Deines Geschlechts irgendetwas nicht zuzutrauen oder Demut zu empfinden oder eine Rolle zuweisen zu lassen, die Du nicht ausfüllen willst.
Oft habe ich mich gefragt, wie die Welt heute aussehen würde, wenn zu allen Zeiten die Frauen den gleichen Anteil, das gleiche Ansehen und die gleichen Möglichkeiten in Politik, Wissenschaft, Kunst, Literatur, Philosophie und, ja, der Gestaltung der Welt und dem Fortkommen der Menschheit gehabt hätten. Meistens macht mich allein der Versuch, mir diese Frage zu beantworten, so wehmütig, daß ich gleich wieder damit aufhöre. Ich bin kein Freund allzu märchenhafter Eutopien, aber ich glaube fest, die Menschheit wäre viel weiter und diese Welt wäre ein besserer, gerechterer und schönerer Ort - für alle.

Leider kann ich Dir nicht erklären, warum es den Frauen so lange so schlecht gehen mußte. Ich verstehe es wirklich nicht. Wie hat Mann das rechtfertigt? Kann es wirklich sein, daß allein die höhere Körperkraft der Männer als Argument pro toto herangezogen wurde, die Frauen als "schwach" und zwar in jeder Hinsicht zu brandmarken? Wieso hatte es damit nicht ein Ende, sobald Gesellschaften entstanden waren, die sich selbst Gesetze gaben, die dafür sorgten, daß Körperkraft allein zur Durchsetzung des Willens nicht mehr geduldet wurde, die also das Recht des Stärkeren abschafften? Vielleicht kannst Du es mir eines Tages erklären, falls Du Soziologin oder Historikerin wirst. Oder Psychologin - denn es könnte doch auch sein, daß der Grund mit einem tief empfundenen Mißtrauen oder auch Neid auf die Fähigkeit der Frauen, Kinder zu gebären, zu tun hat und der Mann die Notwendigkeit empfunden hat, diese sicher lange als mystisch empfundene "Gabe", die er selbst nie erlangen kann, zu kontrollieren, indem er die Frau kontrolliert, was bedeutet: unterwirft.
Was immer der Grund war oder ist, er war nie und ist heute erst recht nicht zu akzeptieren und nichts anderes wirst Du von mir erfahren.
Die Religion hat übrigens auch keine gute Rolle für Euch Frauen gespielt. Das ist ein wichtiger von allerdings zahlreichen Gründen, warum Du ohne Religion aufwachsen wirst. Alle großen Weltreligionen verachten und unterdrücken die Frauen, die Hälfte aller Menschen. Sie schreiben ihnen die schlimmsten Eigenschaften zu, versächlichen sie und ordnen sie dem Manne unter. Sie gehen davon aus, daß dies im Sinne ihrer jeweiligen Gottheiten sei und belegen es mit ihren jeweiligen, von Männern also Menschen verfassten Schriften. Ich halte Dich davon fern, Du wirst vor keinem niederträchtigen Götzen das Knie beugen und Dich gleichsam immer wieder und ohne Hoffnung auf Vergebung für Dein Geschlecht entschuldigen oder schämen. Wenn Du Dich aber doch eines Tages, wenn Du erwachsen sein wirst, entscheidest, einer Religion anzugehören, wirst Du dies aus freien Stücken tun können und vielleicht obwohl Du weißt und verstehst, wie diese Religion die Frauen betrachtet und behandelt.
Was mir Mut macht und Dir hoffentlich auch, ist, daß Du es weniger schwer haben wirst, als andere Frauen vor Dir, daß Du davon profitieren kannst, daß es unermüdlichen Frauen gelungen ist, all die selbstverständlichen Dinge und Rechte für Euch zu erstreiten. Dahinter wird es, solange es freiheitliche und säkulare (!) Demokratien gibt, auch glücklicherweise kein Zurück mehr geben. Es wird ohnehin immer schwerer, auf Frauen und ihre Leistungsfähigkeit in allen Bereichen zu verzichten und Du wirst Dir, so hoffe ich, aussuchen können, welchen Beruf Du ausüben wirst. Dennoch wirst Du in den Köpfen und im Verhalten der Menschen (meist Männer, manchesmal auch Frauen) bisweilen auf Reste der alten Vorstellungen treffen. Wenn das passiert und man Dir dadurch etwas verbauen, vorenthalten oder vorschreiben will, so wehre Dich! Es ist Dein Recht gegenüber den Männern und Deine Pflicht gegenüber den Frauen.
Ach ja, ich wollte Dir ja noch erzählen, was ich über Frauen weiß. Ich will ehrlich sein, mich an Sokrates halten und sagen: ich weiß, daß ich nichts weiß. Nichts, was irgendjemand über Frauen zu wissen behauptet, gilt für alle Frauen. Klischees gibt es in rauhen Mengen und sie sind fast alle blöd und langweilig. Selbst, wenn ich sage, daß ich Frauen toll finde, ist das irgendwie nicht richtig. Ich finde nicht alle Frauen toll und ich sollte auch niemanden nur deshalb mögen, weil sie eine Frau ist. Allerdings glaube ich auch nicht, etwas über jemanden zu wissen, weil sie eine Frau ist. Ich gehe aber dennoch davon aus, daß Frauen Respekt schätzen und zwar, weil Menschen Respekt schätzen. Mann kann also wohl nichts falsch damit machen, erst einmal Respekt für eine Frau aufzubringen - das gilt übrigens auch für Frauen selbst, wenn sie anderen Frauen begegnen, denk' daran! Wenn man das aber tut, verbietet sich im gleichen Zuge natürlich ein Verhalten, das auf den alten Klischees beruht, selbst dann, wenn man herausfindet, daß die Frau, der man gegenübersteht, noch daran glaubt.
Wir fragen mal zusammen Deine Mutter, wie sie sich als Frau fühlt, aber letztlich mußt Du ganz allein herausfinden, was es bedeutet, eine Frau zu sein, ob es überhaupt etwas bedeutet und ob es für Dich etwas besonderes ist. Ich wünsche mir nur, daß es niemals eine Last für Dich sein wird, eine Frau zu sein (immerhin hast Du Dein Geschlecht von mir), und ich würde mich freuen, wenn Du Dir niemals wünschen wirst, ein Mann zu sein, aber auch nie gezwungen sein wirst, Männer zu hassen. Einige sind es wert, Geduld mit ihnen zu haben...

Laß' Dich niemals entmutigen, von niemandem.

In Liebe,
Dein Vater