Mittwoch, 13. Oktober 2010

Wovon man nicht sprechen kann,

darüber muss man schweigen. So empfahl es Wittgenstein in seinem Tractatus Logico-Philosophicus und es wäre zu wünschen, hielten sich auch die Vertreter einer bestimmten, mit weltweiten Verbrechen und institutionalisierter Fortschrittsfeindlichkeit und Amoralität assoziierten Organisation daran.
Der diesjährige Nobelpreis für Medizin wurde verdientermaßen Robert Edwards für die Durchführung der ersten künstlichen Befruchtung, die Erfindung der In-vitro-Fertilisation (IVF), verliehen, durch die er ungezählten Familien das zuvor verwehrte Kinderglück ermöglichen konnte. Eine großartige und für viele zuvor als fortpflanzungsunfähig geltende Frauen und Männer gnadenvolle Errungenschaft und eine weitere Möglichkeit, einer zuvor als schicksalhaft empfundenen Laune der Natur mit wissenschaftlicher Hilfe beizukommen.
Genügend und vernünftige Gründe, Lob und Dankbarkeit auszusprechen und einen Preis zu verleihen.
Nicht jedoch für besagte "Organisation", die sofort ihre maßgebliche Auffassung zur Preisverleihung kundtat:
Ich halte die Wahl von Edwards für vollkommen deplatziert.
So sprach Ignacio Carrasco de Paula, Leiter der "päpstlichen Akademie für das Leben" (ich hoffe, man ist sich vatikanseits der Ironie bewußt, die sich in der Bezeichnung und Existenz dieser Akademie, die ein passendes Pendant in der "chinesischen Akademie für Menschenrechte", der "englischen Akademie für gutes Essen und die Feier Frankreichs" und der "deutschen Akademie für Gleichbehandlung, Integration und Säkularisation" hätte, darstellt). Um die Maßgeblichkeit von Carrascos Äußerung richtig einschätzen zu können, wisse man, daß er "sich im Namen des Vatikans zu ethischen Angelegenheiten äußert", dessen Kompetenz in der Beurteilung von und dessen Wille zur Beseitigung der von ihm selbst verursachten "ethischen Probleme" ja immer wieder eindrücklich unter Beweis gestellt wird. Jedenfalls heißt es weiter:
Edwards hat das Problem der Unfruchtbarkeit nicht gelöst, sondern übergangen.
Ich habe mich zuerst über diese Kritik gewundert. Man sollte doch annehmen, daß die Kirche, die zur Fortpflanzung ja eigentlich die "gehet hin und mehret Euch"/Verhütungsmittel-sind-des-Teufels-sterbt-ruhig-an-AIDS-solange-ihr-vorher-noch-kleine-Christen-gebärt-Einstellung vertritt, eine Möglichkeit zur Zeugung von Kindern, die zuvor nicht hätten gezeugt werden können, bejubelt, oder?
Doch tatsächlich hat der Vatikan die von Edwards entwickelte In-Vitro- Fertilisation bereits 1987 kritisiert. Die Methode sei unmoralisch, weil sie die natürliche sexuelle Vereinigung von Mann und Frau ersetze.
An dieser Stelle eine kleine Information aus der Realität: Lieber Vatikan, die "natürliche sexuelle Vereinigung von Mann und Frau" klappt bei den meisten Paaren, die IVF in Anspruch nehmen sogar ganz ausgezeichnet und Du darfst mir glauben, daß diese Paare sich vor, während und nach der durch IVF ermöglichten Schwangerschaft (sehr) natürlich sexuell vereinigen können, wollen und werden. Das heißt, folgender Dialog "Du, wollen wir uns auf natürliche Weise sexuell vereinigen?" "Ach nein, Notwendigkeit und Bedürfnis dazu wurden doch durch unsere IVF ersetzt!" dürfte zu den eher selteneren Kommunikationsphänomenen zwischen IVF-Paaren gerechnet werden.
Du mußt, lieber Vatikan, wissen, daß es in dieser verrückten Zeit heute tatsächlich möglich ist, die "sexuelle Vereinigung" von dieser "gehet hin und mehret Euch"-Sache, abzukoppeln. Ich weiß, ich weiß, das magst Du gar nicht hören, klingt ja auch komisch, ist aber so. Vielleicht hat Dir Dein teurer Beraterstab, die einfach "den Finger am Puls der Zeit haben" das aber mittlerweile doch irgendwie "verklickert", so daß Du heuer noch mit folgendem Argument gegen die IVF aufwartest: Du kritisierst, diese Methode habe
eine Vielzahl von Kühlschränken gefüllt mit Embryonen, die in Reagenzgläsern nur darauf warten, zu sterben
zur Folge. Ich wüßte gerne, ob das ein rein algebraisches Argument ist, ob der Vatikan also eine Liste führt, in der auf der linken Seite nicht-verwendete "Morituri"-Embryonen und auf der rechten durch IVF ermöglichte, geborene Christen-Kinder addiert werden und seine Position zur IVF schließlich durch den Vergleich der Summen bestimmt. Solche Argumentationseffizienz wäre den werten Herrschaften durchaus zuzutrauen, im Seelengeschäft wird schließlich knallhart kalkuliert.
Aber ernsthaft, ich glaube, ich verstehe langsam, was wirklich dahinter steckt. Es geht, wie immer, um Kontrolle und Macht:
Kontrolle zunächst über die Fortpflanzung und Sexualität und damit die stärksten Triebfedern des Menschen. Es war ein Geniestreich der Religionen, die Sexualität zu verdammen und als ewig-sprudelnde Quelle der Sünde (ein Konzept, dessen kongenialer Ersinnung sie sich ebenfalls rühmen darf) und damit Generator von Schuldgefühlen zu installieren. Wenig wird mehr begehrt als sie, wenig ist, angesichts des Biologischen Imperativs der Proliferation mehr erstrebenswert. Es war also teuflisch-genial, den Gläubigen weiszumachen, daß ihre jeweilige Gottheit die Sexualität, die Lust und die Freude daran, verachte und strafe und damit einen ewigen Kreislauf von Lust, Angst und Reue anzustoßen, der stets neue Sünder erschafft, die aufgrund ihres allzu natürlichen und unausweichlichen Bedürfnisses immer wieder sündigen und zur Erlösung davon vermeintlich der Religion bedürfen und damit - dann darum ging es immer nur - abhängig wurden und sind. Jede Errungenschaft also, die dem Menschen ein höheres Maß an Kontrolle über Sexualität und Fortpflanzung ermöglicht, seien es Verhütungsmittel, sei es die Gleichberechtigung von Homosexuellen, sei es Aufklärung oder eben Fortschritte in der Reproduktionsmedizin muß daher als Bedrohung eines der wichtigsten Instrumente zur Aufrechterhaltung der Abhängigkeit verstanden werden.
Der Machtaspekt ist etwas stärker chiffriert: Es ist im Grunde genommen eine Variation des Themas, das schon damals mit der Kritik und dem Verbot der Pockenimpfung durch den damaligen Paten Papst Leo XII. gespielt wurde (nebenbei: ist es nicht empörend, daß der gemeine Mensch dem armen lieben Gott durch wissenschaftliche Forschung und den Segen der Impfung einfach die guten Pocken weggenommen hat? Damit haben wir den lieben Gott ja quasi gezwungen, sich AIDS als neue "Strafe" auszudenken - "Gott" bewahre, daß es dagegen jemals eine Impfung gibt!). Dieser Gott entschied demnach in Vor-Impf-Zeiten nach Gutsherrenart - so kennt man ihn-, wer an den Pocken erkrankt, wer stirbt und wer nur furchtbar entstellt, aber als Zeichen seiner großen und unverdienten Gnade dennoch überlebt. Solche Entscheidungsgewalt kommt in den Augen der Kirche dem lieben Gott offenbar auch bei der Reproduktion zu, indem er verfügt, wer sich fortpflanzen darf und wer nicht - und daran hat der Mensch nicht "rumzudoktern"!
Es geht hier also meiner Meinung nach um das "Hinnehmen" von "natürlichen" und der Auffassung dieser Leute zufolge "gottgegebenen" Zuständen und um die Kritik an der Auflehnung und dem Widerstand dagegen. Auch das, die Bereitschaft zur nichtinfragestellenden Duldung des Unvermeidlichen weil "von oben Gewollten", ist eine unersetzliche Machtbasis für die Religion. (Hierdurch erklärt sich vermutlich auch der vehemente Widerstand der Kirche gegen die Auffassung, daß Homosexualität einfach "so" und besonders häufig bei katholischen Priestern auftritt und damit möglicherweise am Ende gar "gottgewollt" wäre. Huch!) Ohne diese Duldsamkeit, die gerne als Demut ausgegeben wird und doch nichts weniger als Demut ist, wäre das schreiende Theodizee-Problem nicht zu bewältigen, die Menschen würden sich in Scharen von einem solchen Gott abwenden. So aber wird der vermeintliche "Wille Gottes" hinter für uns einfache Menschen unverständlich und beliebig wenn nicht zufällig wirkenden "Entscheidungen" verschleiert. Die Unbegreiflichkeit dieses Gottes wird dadurch so gleißend, daß dahinter seine Grausamkeit und tyrannische Willkür, die eigentlich die seiner Erfinder und Interpretatoren ist, verblasst.
Wenn nun aber durch menschlichen Erfindungsgeist immer mehr solcher Bastionen der Willkür geschleift, immer mehr "gottgewollte" Urteile zu nurmehr lösbaren Problemen reduziert werden, so muß der Hebel der Religionen immer mehr seiner Kraft einbüßen, im gleichen Maß, in dem das Vertrauen der Menschen zu Wissenschaft und Fortschritt gedeiht und die einschüchternde Gewissheit, sich niemals sicher fühlen zu dürfen, das Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins daran verdorrt.