Montag, 25. Mai 2009

4 Milliarden Jahre und danach die Evolution

Eine besonders für Biologen nervige, lästige aber auch ärgerliche Pseudowissenschaft stellt der Kreationismus dar, sei es in Form des kaum gefilterten biblischen Schöpfungsmythos oder in der besser maskierten und doch völlig unwissenschaftlichen Larve des "intelligent design".
In diesem Eintrag möchte ich ein Feld bereiten, das ich als Biologe und Skeptiker sehr ausdauernd beackern muß: ich stelle das Phänomen des Kreationismus vor, lege seine grundlegenden Strategien dar und versuche, herauszustellen, wie es sein kann, daß sich der Kreationismus trotz der erdrückenden Beweislage gegen ihn immer noch halten kann und auch in Europa zu verbreiten trachtet.
Zunächst zu den echten Fakten: die Erde besteht aus den Leichenresten eines explodierten Sterns und ist ca. 4,56 Milliarden Jahre alt. Die Anfänge primitivsten, aquatischen Lebens auf ihr, und erst ab hier beginnt des Interesse der Biologie, werden auf ca. 3,5 Milliarden Jahre in der Vergangenheit geschätzt. Seit es auf Nukleinsäure als Erbmaterial basiertes Leben gibt, gibt es Evolution, die "Entwicklung" und stetige Veränderung der Lebewesen durch Variation und natürliche Auslese in ständiger Wechselwirkung mit einer sich verändernden Umwelt und später auch im Wettbewerb mit anderen Lebewesen. Der Prozess beruht zum einen Teil auf zufälliger Variation durch Mutation, zu einem weiteren Teil auf ebenfalls ungerichteter Rekombination der Erbanlagen (dies jedoch nur bei sexueller Fortpflanzung) und zu einem Teil auf der gar nicht zufälligen Selektion der Individuen, die am besten an die gegebenen Umweltbedingungen angepasst sind. Die Evolution ist damit ein zielloser (im teleologischen Sinne) aber nicht ungerichteter Prozess der Optimierung, der doch nie zu einem Ende gelangen kann. Keine Lebensform ist geplant gewesen oder stellt einen Endzustand an und das gesamte Geschehen ist bis ins Detail durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu erklären.

An dieser Stelle könnte ich den Artikel abbrechen, da man im Jahr 2009 und angesichts der aus nahezu allen naturwissenschaftlichen Disziplinen zusammengetragenen, sich bestätigenden und ergänzenden Evidenz kaum ernsthaft eine andere Position vertreten kann. Oder? Tja, leider: oder.
Vornehmlich in den USA und muslimischen Ländern, als Faustregel kann man sagen: in Ländern mit hoher Religiosität herrschen auch heute noch in weiten Teilen der Bevölkerung kreationistische, d.h. schöpfungsgläubige Weltauffassungen vor. Es existieren dabei wilde Gemische zwischen den Extremen des biblisch-wörtlichen "Gott schuf die Welt und das Leben in 6 Tagen und aus der Bibel läßt sich errechnen, daß dies vor ca. 6000 Jahren war" und dem zwar ein kreationistisches Element enthaltenden, doch mit der Wissenschaft (noch) zu vereinbarenden "Gott hat die Entstehung der Welt geplant und per Urknall initiiert, der Rest steht in den Fachbüchern".

Und so gehen die Kreationisten vor: Natürlich soll und kann grundsätzlich jeder glauben, was er will, egal wie albern oder absurd es anderen erscheinen mag. Ein Problem ergibt sich aber immer dann, wenn andere "Unschuldige" oder Abhängige, wie z.B. Kinder, durch die eigenen Glaubensvorstellungen und das Bedürfnis, diese in deren Leben zu pressen, Schaden nehmen. Unter "Schaden" fällt meiner Ansicht nach auch das Erlernen und Verinnerlichen von falschem, ideologisch geprägtem "Wissen". Leider ist genau das die Strategie des Kreationismus. Kreationisten wissen, daß ihre "Geschichten" in der bestehenden scientific community, der wissenschaftlichen Weltgemeinschaft, die ihre eigene Sprache, Qualitätskriterien und Korrekturmechanismen entwickelt hat und die den Zweifel und die Skepsis zu ihren höchsten Tugenden rechnet, absoult keine Chance haben. Tatsächlich sucht man kreationistische Aufsätze in allen anerkannten Zeitschriften und Journalen, in denen sich die scientific community mitteilt, ihre Ergebnisse vorstellt und diskutiert, vergebens. Denn dem Kreationismus fehlt zur Gänze die wichtigste Währung aller Wissenschaft: die Evidenz. Er hat hat keine Daten hervorgebracht und arbeitet nur mit untestbaren Hypothesen. Dies macht seine Hervorbringungen ungeeignet für jede wissenschaftliche Publikation.
Seine Vertreter wissen das und sehen daher die Notwendigkeit, stattdessen auf die nachwachsenden Generationen, die Schulkinder und Studenten, Einfluß zu nehmen und dafür zu sorgen, daß sie kreationistisches Gedankengut bereits verinnerlicht haben und mitbringen, wenn sie sich auf den Weg machen, die Forscher und Wissenschaftler von morgen zu werden. Genau das wird, teils mit besorgniserrgendem Erfolg - je nachdem, in welchem Land man sich umsieht - versucht, indem Kreationisten große Anstrengungen unternehmen, den Kreationismus gleichberechtigt mit der Evolutionstheorie (ET) (oder am liebsten ausschließlich) im Biologieunterricht auf den Lehrplan zu bringen. In den USA, im Staat Pennsylvania ist ein hochbeachteter Prozess, der die Entlarvung von intelligent design als Kreationismus bewirkte, für die Kreationisten zwar gescheitert, doch in anderen Bundesstaaten wird den Schülern immer noch suggeriert, es gebe eine echte wissenschaftliche "Kontroverse" über die Gültigkeit der Evolutionstheorie, betrieben hauptsächlich von einem konservativ-religiösen "think tank", also einer antiwissenschaftlichen Propaganda-Institution, dem "Discovery Institute". In Kentucky wurde sogar unlängst für sagenhafte 27$ Mio. ein Museum errichtet, in dem die biblische Schöpfungsgeschichte als Lehr- und Anschauungsstoff dargeboten und als faktisch wahr dargestellt wird. Alldieweil überschwemmt aus der Türkei der überaus kontroverse Kreationisten-Hardliner Adnan Oktar (Pseudonym: Harun Yahya) die Schulen der Welt (meist sogar kostenlos) mit seinem äußerst aufwendig und teuer produzierten "Atlas of Creation", einem Machwerk, das teils auf kurios falsche Weise die Schöpfungslehre in Bild und Wort belegen und dies bereits in die Köpfe der Schüler einflößen soll. An diesen und vielen weiteren Beispielen, von denen auch Deutschland ein paar unrühmliche zu bieten hat, sieht man, wie eifrig und unnachgiebig die Einflußnahme auf Schüler und Schulen betrieben wird und wie wichtig es ist, diese Gefahr zu erkennen und dagegen vorzugehen, indem man aufklärt, warnt und mit dem schwersten Pfunde wuchert, das die echte Wissenschaft aufbieten kann: Evidenz! Diese muß man so darstellen, auch und besonders für Kinder, daß klar wird, warum die Evolutionstheorie so stark ist, warum man mit ihr alles erklären kann und warum es so wichtig ist, Beweise für seine Behauptungen und Ideen zu finden.
Da die kreationistische Schöpfungslehre bis dato keinerlei Evidenz hervorgebracht hat, - die Bibel zählt sehr zum Verdruss der Kreationisten nicht als Evidenz - müssen sich ihre Verfechter mit Rhetorik, Propaganda und inszenierten Disputen behelfen, wo sie sich ausschließlich mit negativer Argumentation, also mit Angriffen auf die ET begnügen. Natürlich verkennen sie dabei die Tatsache, daß, selbst wenn die ET sich eines Tages als falsch herausstellen würde, dies keinesfalls bedeutete, daß damit automatisch der Kreationismus die richtige Erklärung wäre. Doch diese und andere rhetorische und intellektuelle Unredlichkeiten gehören leider zum festen Repertoire kreationisticher Apologeten. Zum Beispiel wird auch häufig versucht, die Evolutionstheorie moralisch oder ideologisch anzugreifen, indem behauptet wird, daß sich die Nazis der Theorie bedient hätten, um ihre selektiven Morde zu rechtfertigen (was nicht nur falsch und absurd ist, sondern auch nicht im mindesten den Wahrheitsgehalt der ET verändern würde) bzw. indem sie sie mit Atheismus assoziieren, als müsse, wer die ET vertritt, Atheist sein (und als wäre das etwas schlimmes).
In Debatten und Podiumsdiskussionen gehen Kreationisten meist auf die gleiche Weise vor: sie haben einen vorbereiteten Strauß von teils pseudowissenschaftlichen, teils moralischen, teils scheinbar logischen Argumenten gegen die ET und zwar völlig unabhängig von ihrem Gesprächspartner. Der Gesprächspartner wird die Argumente, die sein Fachgebiet betreffen, widerlegen können, kann sich aber meist nicht fundiert (und diesen Anspruch sollte man, gerade als Wissenschaftler an sich stellen) zu Argumenten aus anderen Bereichen äußern. Ein Biologe könnte leicht das angebliche Fehlen von Übergangsfossilien widerlegen, sich aber ggf. nicht über angebliche Schwächen bei der Radiocarbon-Datierung äußern, was, bei geschickter rhetorischer Ausnutzung und entsprechender Zusammensetzung des Publikums, den Eindruck erwecken kann, als habe der Kreationist ein unwiderlegbares Argument, wenn es in Wirklichkeit nur vom gegebenen Gesprächspartner gerade nicht widerlegt werden kann. Es ist daher immer äußerst undankbar und schwierig, in solchen Disputen eine gute Figur zu machen und die Wissenschaft gegen den Aberglauben zu verteidigen, insbesondere deshalb, weil die Kreationisten gar nicht an einer offenen Diskussion interessiert sind und sich durch noch so viele Argumente und Beweise nicht überzeugen lassen. Zum Glück gibt es mittlerweile eine Internetseite, wo die klassischen Kreationistenargumente gesammelt, geordnet und samt ihrer wissenschaftlichen und durch zahlreiche Refrenzen gestützten Widerlegung aufgeführt sind. Diese gibt es sogar als Buch, das ich jedem, der eine öffentliche Debatte mit diesen Leuten führen muß, nur wärmstens empfehlen kann. Ich kann aber auch jede(n) verstehen, der/die eine solche Debatte ohnehin ablehnt, weil er/sie der Meinung ist, daß allein ein gemeinsamer Auftritt und ein ernsthaftes Gespräch mit solchen Leuten, diesen und ihrer Antiwissenschaft eine viel zu große Legitimation geben würde.
Aber was treibt die Kreationisten an? Woher kommt dieser Eifer und die Kraft, trotz der massiven und für sie völlig unüberwindlichen Evidenz der echten Wissenschaften gegen deren grundlegende Theorien zu kämpfen? Es kann kaum das Interesse an schlechter Wissenschaft sein. Es ist religiöser Eifer, der sich auf dem Feld der Wissenschaft aber eben mit religiösen statt wissenschaftlichen "Instrumenten" behaupten will. Sie bieten Propaganda statt Daten, Dogma statt Zweifel, Überlieferung statt Überprüfung, Bibelzitate statt Experimente und emotionale Glaubensüberzeugung statt testbaren Wissens. Ihr Kampf ist schon verloren bevor er angefangen hat, aber sie sind dennoch überzeugt, ihn führen zu müssen, weil sie aus der Bibel und ihrer wörtlichen Auslegung folgern, daß dies der Wille ihrer Gottheit sei. Sie fühlen sich in ihrer Eitelkeit und der "ihres" Schöpfers verletzt, wenn die Evolutionstheorie sie lehren will, daß der Mensch nichts Besonderes, kein Endzustand, eher eine vorübergehende Laune ist, daß es keine Schöpfung, nur eine Entwicklung gibt, daß sie mit den Menschenaffen über 98% genetische Identität und gemeinsame Vorfahren besitzen, daß das Universum kalt, leer und gleichgültig ist, daß die Wissenschaft in ihren Experimenten keinen Sinn für ihr Leben und keine Berechtigung, die Natur auszuplündern, finden kann. Keine andere wissenschaftliche Theorie ist so unbequem, ernüchternd und Bescheidenheit gebietend und keine andere Theorie macht einen Schöpfergott als Urheber des Lebens in all seiner Komplexität, Verworrenheit und Unlogik so überflüssig und entbehrlich und als menschengemacht und menschengewünscht durchschaubar, wie die Evolutionstheorie. Deshalb, weil diese Theorie so tief in fundamentale "Gewissheiten", Befindlichkeiten und auch das Gefühl des "In-Welt-geborgen-Seins" eingreift und die gewohnte, lieb gewonnene und benötigte Vorstellung einer personalen, liebevollen, zugewandten Gottheit so krass zurechtstutzt, streitig macht und bis hinter den Urknall zurückdrängt, müssen diese Menschen so entschlossen dagegen vorgehen und dabei sogar in Kauf nehmen, alles zu leugnen, zu ignorieren und sogar zu verzerren, was die Wissenschaft erkannt und in Form von überwältigender Evidenz angehäuft hat. Sie lehnen mithin Wahrheit und Wissen ab, wenn diese mit ihrem Glauben und Hoffen nicht übereinstimmen. Ich verstehe das, doch ich finde es schade, daß sie sich sogar den Versuch versagen, uns zu verstehen und zu erleben, wie erfüllt und glücklich auch ein Leben ohne Gott, ohne Schöpfer sein kann, wieviel wertvoller dieses eine, endliche Leben einem erscheint und wie schön und erhaben das Gefühl ist, seinem eigenen Leben selbst einen Sinn gegeben zu haben.

Freitag, 8. Mai 2009

Es ist nur Wasser!

Kaum existiert das Blog eineinhalb Monate, schon erscheint der zweite Eintrag! Ob ich dieses Tempo durchhalte?
Etwas, das mich schon lange beschäftigt und das in Art und Irrationalität des Zuspruchs vollkommen an eine Religion erinnert, ist die Homöopathie. Diese, nennen wir sie, Philosophie, deren Essenz und namengebendes Prinzip ist, daß "ähnliches ähnliches heile", wurde 1796 vom deutschen Arzt Samuel Hahnemann begründet. Hahnemanns Idee war es, Kranken Substanzen in stark verdünnter Form zu verabreichen, die bei Gesunden die Symptome hervorrufen würden, unter denen der zu behandelnde Kranke leidet. Die Verdünnungsprozedur spielt dabei in der Homöopathie eine bedeutende Rolle, da sie in der Vorstellung der Homoöpathen zwar die unerwünschten Nebenwirkungen des Diluens vermindert, die erwünschten Wirkungen hingegen verstärkt oder "potenziert" (wie der Verdünnungsprozess zwischen erwünscht und unerwünscht unterscheidet, ist nicht überliefert). Aus diesem Grund nennen Homöopathen die Verdünnungen auch Potenzen und zwar entspricht die Potenz D1 einer 1:10-fachen Verdünnung des reinen Wirkstoffs. Wenn aus dieser Verdünnung ein zehnter Teil (z.B. 1 ml von 10 ml) entnommen und mit 9 ml eines neutralen Lösemittels wie Wasser gemischt wird, entsteht chemisch gesehen eine 1:10 Verdünnung einer 1:10 Verdünnung, also eine 1:100 Verdünnung. Dies nennen Homöopathen Potenz D2. D3 entspricht also einer 1:1000 Verdünnung, D4 einer 1:10.000 Verdünnung usw. Die Homöopathen glauben weiterhin, daß ihre spezielle rituelle Art des "Verschüttelns" der Verdünnungen notwendig für die Erzeugung und den Erhalt der Wirkpotenz sei. Eine übliche homöopathische Potenz ist z.B. D23, eine 1: 1 Trilliarde Verdünnung. Dies entspricht in etwa dem Verdünnungsgrad, den man erhalten würde, wenn man einen Tropfen einer reinen Wirkstofflösung ins Mittelmeer geben, kräftig "verschütteln" und dann wieder einen Tropfen entnehmen würde. Pharmakologisch bewegt sich eine solche Verdünnung, wenn sie überhaupt ein einziges Wirkstoffmolekül enthält, äußerst weit von jeder noch so geringen Wirksamkeit. Natürlich, da ist den Homöopathen zuzustimmen, hat diese Verdünnung auch keinerlei Nebenwirkungen, weswegen sich homöopathische Präparate tatsächlich sehr schonend ausnehmen.
Was ist denn nun das Problem mit der Homöopathie?
Ich sehe zwei grundlegende Probleme, wobei das zweite nur mittelbar mit der Homoöpathie zu tun hat, aber dennoch auf sie anwendbar ist.
Das erste und grundlegende Problem ist, daß es für das Wirkprinzip keine wissenschaftliche Erklärung und für die Wirksamkeit keine valide, d.h. unter doppelt verblindeter, randomisierter Testung mehrfach reproduzierte Evidenz gibt.
Auch Homöopathen ist bewußt, daß ihre Potenzierung chemisch eine Verdünnung ist, sie wissen also, daß ihre Tinkturen kaum wenn überhaupt Wirkstoffmoleküle enthalten. Sie erklären die vermeintliche Wirksamkeit ihrer Produkte damit, daß in der unverdünnten Lösung der Wirkstoff seine Eigenschaften dem Wasser "aufgeprägt" habe - so wie ein Gipsabdruck einer Hand bestehen bleibt, wenn die Hand längst wieder weggenommen wurde, soll das "Wassergedächtnis" diese Aufprägung behalten und muß sie theoretisch auch dem Wasser, das bei den Verdünnungen hinzukommt, weitergeben, da sonst das "geprägte Wasser" selbst wie ein Wirkstoff zu verstehen und bei Potenzen wie D23 bis zur Unauffindbarkeit verdünnt wäre. Das in hohen Potenzen vorliegende, geprägte Wasser soll dann den heilsamen Effekt herbeiführen. Nichts davon, weder die "Prägung" von Wassermolekülverbänden noch die "Weitergabe" solcher Formen an "ungeprägtes" Wasser noch irgendeine Wirkung von reinem Wasser auf den Körper, abgesehen von den bekannten, konnte je von der Naturwissenschaft nachgewiesen werden, ja, es würde den grundlegenden und millionenfach bestätigten Erkenntnissen über die Chemie und Physik des Wassers sogar krass zuwiderlaufen. Hinzu kommt, daß Hahnemann zu Lebzeiten bereits Krankheitsbildern begegnete, denen er mit homöopathischen Mitteln nicht beikommen konnte, die wissenschaftliche gesprochen also durch den reinen Placeboeffekt nicht zu heilen waren. Für diese sog. "chronischen Krankheiten" erfand er die ihnen angeblich zugrundeliegenden "Ur-Übel" oder Miasmen, die er in völlig willkürliche und nach heutiger Sicht unsinnige Katergorien einteilte. Hahnemann bewegte sich dabei auf dem ziemlich unwissenschaftlichen Stand der Medizin des 19. Jahrhunderts - dem massiven Erkenntiszuwachs der Schulmedizin, der die "Keimtheorie" für Infektionskrankheiten einschließt, zum Trotz werden Hahnemanns Ideen noch heute der "modernen" Homöopathie zugrundegelegt.
Damit verhält sich die Homöopathie zur evidenzbasierten sog. "Schulmedizin" wie die Astrologie zur Astronomie. Auch die Astrologie geht von unbewiesenen Prämissen aus, baut darauf ein "Lehrgebäude" auf und zieht Schlüsse, die den Anspruch erheben, eine Entsprechung in der Realität zu haben. Diese Ergebnisse hielten der Überprüfung durch doppelblinde Studien, genau wie bei der Homöopathie, noch in keinem Fall stand.
Homöopathie-Befürworter versuchen daraufhin meist, den Vorwurf der mangelnden Evidenz durch Anekdoten oder Geschichten über angebliche Studien in XYZ zu entkräften, doch wenn man diese Studien zu sehen verlangt oder selber nachprüft, ergibt sich stets, daß sie methodisch unzureichend oder gefälscht sind. Die Homöopathie muß somit als reine Pseudowissenschaft ohne reales Korrelat aufgefasst und alle ihr zugeschriebenen und anekdotisch berichteten Wirkungen dem Placeboeffekt zugerechnet werden.

Das zweite Problem ist die objektiv gesehen völlig unverständliche Akzeptanz, mehr noch der begeisterte Zuspruch, den die Homöopathie auch im Jahr 2009 erfährt. Das ist natürlich kein homöopathiespezifisches Phänomen sondern der allgemeinen wissenschaftlichen Unbildung der Bevölkerung, die sie außerstande setzt, zu verstehen, warum Homöopathie nicht funktionieren kann, sowie einer sich durch die althergebrachte Religionsausübung gewohnt anfühlenden Gutgläubigkeit, der Bereitschaft also, Behauptungen zu glauben, wenn nur die Ernsthaftigkeit ihres Vortrages, gepaart mit rituellen Arabesken die für ihre Begründung eigentlich notwendige Evidenz ersetzen, verschuldet. Natürlich, die Homöopathie, die sich gegen die "große" Schulmedizin wie David gegen Goliath behaupten muß, von der es keine Schreckensmeldungen über Nebenwirkungen gibt, die sich den Anstrich der zugewandten, „ganzheitlichen (was immer das sein soll) Naturmedizin“ gibt, wo man sich lange, interessiert und ausführlich mit einem Patienten befasst, ist in diesem Konflikt der Sympathieträger. Die behemothische Schulmedizin, die vielen Leiden ebenfalls hilflos gegenübersteht und sich allzuhäufig im Umgang mit Patienten auf den unpersönlichen Abwurf von Erzeugnissen der Pharmaindustrie auf diese beschränkt und in ihrem Beharren auf Wirknachweis und darlegbares Wirkprinzip verstockt und unflexibel wirkt, wird mit Mißtrauen und Ablehnung betrachtet. Das gilt natürlich ganz besonders bei „Leiden“, die keine echte organische Ursache haben, sondern psychisch bedingt sind und sich dann irgendwann somatisch Bahn brechen. Und mit „Leiden“ meine ich keine echten psychischen Leiden wie Schizophrenie oder Depression, welche medikamentös sehr gut zu behandeln sind, sondern, eben, „Leiden“. Das Leiden am Dasein, das Alleinsein, das Gefühl der Unzulänglichkeit und und und… Da nützen keine Pillen, keine Impfungen und Antibiotika, da nützt tatsächlich der einzige Wirkstoff, den die Homöopathie hat: Zeit. Und die Behandlung heißt „Betüdelung“ und hier wirkt sie und sie befreit manche Menschen von enormem Leidensdruck.

Die meisten Menschen sind jedoch vernünftig genug und kehren, wenn sie oder ihre Angehörigen wirklich krank werden, reumütig zur ’bösen’ Schulmedizin zurück, wo man ihnen Antibiotika statt verdünnte Bakterien gegen schwere Infektionen gibt und ihnen den kurz vor dem Platzen stehenden Blinddarm herausnimmt, statt sich in einem langen Gespräch ein „ganzheitliches“ Bild von deren „Lebenskraft“ zu machen. Ich sagte: die meisten Menschen. Wenn man dem Trug der Homöopathie vollständig erliegt oder aber vollständig und rückhaltlos in einer esoterischen Geisteswelt abgetaucht ist, kommt es zum Unglück: dann werden auch ernste, „echte“ Krankheiten nur mit Wasser und Betüdelung zu behandeln versucht und dann sterben Menschen. Es ist keine zwei Wochen her, daß zwei Leute, die leider und offenbar an erster Stelle überzeugte Homöopathen und dann erst Eltern waren, ihr Kind auf grauenhafte Weise sterben ließen.

Ich bin in einem Zwiespalt: wenn diese Leute wirklich und wahrhaftig geglaubt haben, das beste für ihr Kind zu tun, haben sie ja eigentlich nicht schuldhaft gehandelt. Andererseits hätten sie wissen können und müssen, daß ihr geschütteltes Wasser ihr Kind nicht retten kann. Das Problem an dieser Stelle ist: kann man den Vernunftgebrauch gesetzlich vorschreiben? Wenn ja, hätten die Eltern ihre Vernunft gebrauchen, erkennen, daß Wasser und ein Placeboeffekt nicht gegen den lebensbedrohlichen Zustand ihres Kindes hilft und ihm eine durch Evidenz gestütze Therapie, die es sicher gerettet hätte, zukommen lassen müssen. Wenn aber der Vernunftgebrauch gesetzlich vorgeschrieben wäre, würde dieses Gesetz direkt mit Artikel 4 des Grundgesetzes kollidieren, der eben gerade jedem die Freiheit zugesteht, die Vernunft zu Gunsten irrationaler Annahmen ruhen zu lassen.
Es stimmt mich melancholisch, daß hier ein unausräumbares Dilemma vorliegt: schafft man Artikel 4 ab, wird es Kriege und Tote geben, weil die Menschen nicht vernünftig sind und es auch nicht sein wollen. Behält man ihn, bleibt es dabei, daß Unvernunft und mutwillige Irrationalität, sowie deren ritualisierte Proliferation geduldet und geschützt wird, daß also eine Geisteshaltung unter Grundrechtschutz gestellt wird, die eine evidenzbasierte, vernunftorientierte Weltsicht häufig verstellt, was, wie wir sehen, auch im Jahr 2009, Menschenleben kostet. Das Dilemma läßt sich also zugespitzt als einen Widerspruch zweier Menschenrechte auffassen: das Recht auf freie Religionsausübung (egal ob man Homöopathie, die wie oben dargelegt alle Kriterien einer Religion erfüllt, als Beispiel dafür heranzieht oder den islamischen oder christlichen Exorzismus, der ebenfalls, anstelle echter Medizin zur Heilung Kranker auch heute noch angewandt wird) in einigen Fällen nicht mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu vereinbaren.
Die Frage, welches Menschenrecht schwerer wiegt, kann ich für mich klar beantworten: das Recht auf Leben!

Hier noch ein Comic, der es gut zusammenfasst:
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Literatur:
Maddox J, Randi J, Stewart WW.Nature. 1988 Jul 28;334(6180):287-91.
"High-dilution" experiments a delusion.

Hektoen L. Vet Rec. 2005 Aug 20;157(8):224-9.
Review of the current involvement of homeopathy in veterinary practice and research.

Shang A, Huwiler-Müntener K, Nartey L, Jüni P, Dörig S, Sterne JA, Pewsner D, Egger M. Lancet. 2005 Aug 27-Sep 2;366(9487):726-32.
Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy.

Cowan ML, Bruner BD, Huse N, Dwyer JR, Chugh B, Nibbering ET, Elsaesser T, Miller RJ.Nature. 2005 Mar 10;434(7030):199-202.
Ultrafast memory loss and energy redistribution in the hydrogen bond network of liquid H2O.

Baum M, Ernst E. Am J Med. 2009 Nov;122(11):973-4.
Should we maintain an open mind about homeopathy?

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Nachtrag: Die o.g. Eltern, die ihr Kind sterben ließen, weil sie ihm eine wirksame Behandlung zu Gunsten von homöopathischen Wässerchen vorenthielten, sind nun wegen Totschlags zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.